MYTHISCHE NEBELSCHLEIER Das Trojanische Pferd in der Fotografie Ann-Kathrin Müllers

Sarah Donata Schneider

Im Bruchteil einer Sekunde vermag die Kamera den Augenblick festzuhalten. Gebannt auf eine Filmrolle oder auf ein Speichermedium überdauert er den Moment. Während die Erinnerung verblasst, zeichnet die Bild gewordenen Realität Geschichte ab. Im Vergleich mit anderen Kunstrichtungen wie beispielsweise der Literatur, der Malerei oder der Musik ist die Fotografie noch sehr jung. Seit ihrer Erfindung, die mit der Veröffentlichung des technischen Verfahrens der Daguerrotypie in das Jahr 1839 fällt, wurde der künstlerische Wert ihres scheinbar rein technischen Verfahren immer wieder in Frage gestellt. Dabei fiel die Geburtsstunde der Fotografie mit einem künstlerischen Anliegen zusammen. Denn für den französischen Maler Louis Daguerre eröffnete sie erstmals die Möglichkeit, detailreiche und wahrheitsgetreue Aufnahmen von Landschaften anzufertigen.

Mit sezierenden Schärfe zeichnet Ann-Kathrin Müller in den ausnahmslos in einer sachlichen Schwarz-Weiß-Ästhetik gehaltenen Werkreihen ihre Umgebung ab. Zwischen den ausdifferenzierten Grautönen ihrer Fotografien und dem von ihr gewählten Bildausschnitt entfalten die von ihr im Blick durch die Linse der Kamera eingefangenen Objekte eine assoziative Erzählkraft. In ihren seriellen Aufnahmen greift die in Stuttgart lebende Künstlerin auf ein traditionelles Entwicklungsverfahren zurück. Durch die Verwendung einer Analogkamera ihr vielschichtigen Werk an ganz bestimmte künstlerische Fertigkeiten bei dessen Realisation im Labor gebunden. Neben einer Sinar, die 1947 in der Schweiz von Carl Hans Koch erfunden wurde, ist die in den 1950er-Jahren erstmals entwickelte Hasselblad 500 CM ihr bevorzugtes künstlerisches Mittel zur Realisation eines konzeptionellen Ansatzes.

Das Haus Le Corbusier, das sich am Hang des Killesberg in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung befindet, ist Entstehungsort der ersten beiden Aufnahmen der 2014 entstanden Serie Vantage Point. Von dunklen Schatten eingefasst wird der weiß lumineszierende Vorhangstoff hinter einer Blende vom Tageslicht durchsetzt. Seine klaren, gerade verlaufenden Falten wiederholen sich innerhalb dieser Werkreihe in der fließenden Struktur eines Kleides sowie einer Wandmaserung. In zarten Linien formen sie die erste Aufnahme der Folge gleich dem, was sie zu verbergen suchen: das für die Fassadengestaltung Le Corbusiers prägende Langfenster. Während der Blick aus der horizontalen Öffnung des Betonbaus, die sich in die Bildachse drängt, verschleiert bleibt, überträgt die Künstlerin dessen ursprünglich strukturgebende Kraft in den gesamten Bildaufbau.
Die zwischen 1926 und 1927 anlässlich einer Ausstellung des Deutschen Werkbundes entstandenen Wohnhäuser des Architekten Le Corbusier, der selbst ein umfangreiches fotografisches Werk hinterlassen hat, bilden nicht allein den konzeptionellen Ansatz zu dieser Serie, sondern sind zeitgeschichtliches Zeugnis. In Fünf Punkte einer neuen Architektur verfasste der in der Schweiz geborene und in Frankreich wirkende Theoretiker in den 1920er-Jahren eines seiner einflussreichsten Manifeste. Der englischsprachige Titel der Werkreihe, der sich mit dem Begriff ‚Blickwinkel‘ übersetzen lässt, wird zum Ausgangspunkt der aus sechs Silbergelatineabzüge bestehenden fotografischen Folge. In ihr begründet die Künstlerin, die sich selbst vor einer konstruktivistischen Komposition des Stuttgarter Malers Willi Baumeister inszeniert, ihre die Welt erforschende Sprache der Fotografie. Was Walter Benjamin in Kleine Geschichte der Fotografie als Aura umschrieb, als »sonderbares Gespinst von Raum und Zeit«[1], wird vor dem architekturhistorischen Hintergrund der Arbeiten zum kulturgeschichtlichen Desiderat. 2015 schreibt Ann-Kathrin Müller dieses in der Aufnahme einer massiven Betontreppe, die sich aus einem Hochformat zu winden scheint, in der zweiten Fotografie der Serie Die Exkursion fort.

Da das Herzstück der von dem schwedischen Fotografen Victor Hasselblad erfundenen Systemkamera, die sogenannte Kernzelle, einer Würfelform entspricht, sind die meisten Aufnahmen von Ann-Kathrin Müller in ein quadratisches Format gefasst. Während für Kasimir Malewitsch und die von ihm begründete Stilrichtung des Suprematismus das Quadrat eine der klarsten geometrischen Formen darstellte, bezeichnete es Wassily Kandinsky 1926 in seiner kunsttheoretischen Schrift Punkt und Linie zu Fläche als »objektivste Form der schematischen Grundfläche«[2].
Im Konzept der Künstlerin bildet sie den Rahmen zu der dreiteiligen Serie Tamerlan, die zwischen 2014 und 2015 entstanden ist. Auf ihrer Bildfläche reihen sich ein historisches Porschemodell, eine in alle Richtungen wuchernde Palme und das Bild einer jungen Frau mit Bademütze aneinander. Die sinnlich wahrnehmbare, von der Präsenz ihrer Materialität geprägte Oberfläche der Handabzüge auf Aludibond und die in einem geometrischen Gleichklang ruhende Form des quadratischen Bildausschnitts übersetzen die Bewegung versprechenden Gegenstände in der monochromen Gestalt der Schwarz-Weiß-Fotografie in einen Moment ikonischen Stillstands. Im Rückzug aus dem allgegenwärtigen Farbenreichtum der Gegenwart erwachsen die Bildzitate von Ann-Kathrin Müller zur Erinnerung an eine längst vergangene Zeit. In ihrer seriellen Abfolge treten die Motive in einen semiotischen Dialog, der die architektonische Konstruktion ihres Aufbaus überwindet und in ihrer syntaktischen Verbindung zur kinematografischen Szene erwächst.

Da das Herzstück der von dem schwedischen Fotografen Victor Hasselblad erfundenen Systemkamera, die sogenannte Kernzelle, einer Würfelform entspricht, sind die meisten Aufnahmen von Ann-Kathrin Müller in ein quadratisches Format gefasst. Während für Kasimir Malewitsch und die von ihm begründete Stilrichtung des Suprematismus das Quadrat eine der klarsten geometrischen Formen darstellte, bezeichnete es Wassily Kandinsky 1926 in seiner kunsttheoretischen Schrift Punkt und Linie zu Fläche als »objektivste Form der schematischen Grundfläche«[2].
Im Konzept der Künstlerin bildet sie den Rahmen zu der dreiteiligen Serie Tamerlan, die zwischen 2014 und 2015 entstanden ist. Auf ihrer Bildfläche reihen sich ein historisches Porschemodell, eine in alle Richtungen wuchernde Palme und das Bild einer jungen Frau mit Bademütze aneinander. Die sinnlich wahrnehmbare, von der Präsenz ihrer Materialität geprägte Oberfläche der Handabzüge auf Aludibond und die in einem geometrischen Gleichklang ruhende Form des quadratischen Bildausschnitts übersetzen die Bewegung versprechenden Gegenstände in der monochromen Gestalt der Schwarz-Weiß-Fotografie in einen Moment ikonischen Stillstands. Im Rückzug aus dem allgegenwärtigen Farbenreichtum der Gegenwart erwachsen die Bildzitate von Ann-Kathrin Müller zur Erinnerung an eine längst vergangene Zeit. In ihrer seriellen Abfolge treten die Motive in einen semiotischen Dialog, der die architektonische Konstruktion ihres Aufbaus überwindet und in ihrer syntaktischen Verbindung zur kinematografischen Szene erwächst.

Das Spiel mit kulturhistorischen Referenzen der jüngsten Geschichte, die mit dem kollektiven Gedächtnis verwachsen sind, mündet in der vierten Aufnahme der 2015 und 2016 entstandenen Folge Die Exposition im Bild eines Billboards über den Dächern einer Stadt. Auf ihr ist die amerikanische Schauspielerin Carrie Fisher in der Star Wars Episode »The Force Awakens« zu sehen. Die Referenz zu George Lucas‘ letzter Science-Fiction-Trilogie eines Heldenepos, das im fiktiven Universum einer fernen Vergangenheit spielt, verdeutlicht, dass die konzeptionelle Fotografie Ann-Kathrin Müllers an ihrer Oberfläche auf technischem Feingefühl und dokumentarischem Charakter beruhen, in ihrem Kern jedoch ein narratives Bildvermögen offenbart. Roland Barthes beschreibt dieses Phänomen in seinem Essay Die helle Kammer als »punctum« der Fotografie, als »jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)«[3].

Dass die zehn in der Nähe von Neapel auf phlegräischen Nebelfeldern entstandenen Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Serie Szenarien unter freiem Himmel mit einer Hasselblad aufgenommen wurden, geht über die künstlerische Intention der Fotografin hinaus. Mit dieser Kamera verwendet Ann-Kathrin Müller eben jenes Modell, mit dem der amerikanische Raumfahrtpilot Buzz Aldrin 1969 den Astronauten Neil Armstrong auf der Mondoberfläche aufnahm und damit Geschichte in einem fotografischen Dokument festhielt. Wie das Bild der ersten Mondlandung ist das einem Film des italienischen Regisseurs Roberto Rossellini entnommene Landschaftsmotiv der 2017 entstandenen Werkreihe im kulturellen Bewusstsein der Gegenwart verankert. Die Fußspuren der Astronauten auf dem niemals zuvor von einem Menschen betretenen Planeten wirken ebenso fiktiv wie der mythische Schleier, der sich über die Gesteinsschichten in den kleinformatigen Fotografien legt.

Während die Fotografie im Laufe ihrer Geschichte durch die Entwicklung von verbesserten Kamerasystemen und optimiertem Filmmaterial immer mehr an kultureller sowie gesellschaftlicher Bedeutung gewann und mit der Auflösung der traditionellen Gattungsgrenzen durch einen »Erweiterten Kunstbegriff« im Sinne Joseph Beuys‘ Anerkennung als eigenständige Kunstform erfuhr, wird sie im Werk von Ann-Kathrin Müller zum Medium der Erinnerung. Aus dem Stillstand ihrer zumeist in einem Holzrahmen eingebetteten Bilder, die den Augenblick festhalten, entwickeln sich auf geradezu filmische Weise Geschichten, welche den Moment, in dem sie den Auslöser betätigt, überdauern.
Die Aufnahmen Der Künstlerin bestimmen unser Verhältnis zur Wirklichkeit neu. Sie prägen unsere Wahrnehmung der Welt, schreiben die Vergangenheit als Geschichten fort. Ihre emblematische Struktur führt in eine allegorische Lektüre, die sich an die Ästhetik des Stummfilms anlehnt. Mit den eigens zu den Werkreihen entstandenen literarischen Erzählungen von Ann-Kathrin Müller, die sich symbiotisch mit ihren Bildmotiven verbinden, steht sie in der Tradition einer seit den 1970er-Jahren sich etablierenden Konzeptkunst. Im Spannungsfeld zwischen abstrakter und dokumentarischer Form nähern sich ihre Schwarz-Weiß-Fotografien im architektonischen Aufbau formal dem monumentalen Werk von Bernd und Hilla Becher. Inhaltlich offenbaren sie sich jedoch als Inszenierungen, welche die Wirklichkeit der Bilder unterlaufen. Als ›hybride Gattung‹ untrennbar mit dem medialen Zeitalter des 21. Jahrhunderts und dem stillen Bedürfnis des Menschen nach Bildern verbunden, wirken die Aufnahmen der Künstlerin gleich einem Trojanischen Pferd. In Holz eingefasst und in klaren Strukturen komponiert, tragen sie in ihrem Innern die erzählerische Kraft eines ganzen Mythos in sich.

 
1

Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Fotografie, in: Aura und Reflexion, Frankfurt am Main 2007. S. 363.

2

Wassily Kandinsky: Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente, hrsg. von Walter Gropius und Laslo Moholy-Nagy, München 1926. S. 109.

3

Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Fotografie, Frankfurt am Main 1989. S.35.