Das narrative Potenzial des fotografischen Blicks

Judith Engel

Das narrative Potential des fotografischen Blicks, der über Bildkomposition und Perspektive Aussagen über das Gezeigte trifft, ist Ausgangspunkt für Ann-Kathrin Müllers Arbeiten. Für die Varietät dieses Blickes steht stellvertretend ein persönlich angelegtes Archiv von Bildern aus unterschiedlichen Quellen wie Werbeaufnahmen, Filmstills, Grafiken und Malereien. Was davon in der Arbeit bleibt, ist der Punkt, an dem über den formalen Aufbau eines Bildes inhaltliche Aussagen entstehen und sich eine Erzählung und Argumentation entwickelt.

Wie sind die einzelnen Elemente ins Bild gesetzt, welche Hierarchien können entstehen? Was sagt die Darstellungsweise eines Menschen in Skizzen von Le Corbusier über das moderne Verständnis vom Verhältnis des Menschen zu Architektur und Kultur aus? Welches Verständnis lässt sich aus der Abwesenheit des Menschen in modernistischen Architektur- und Ausstellungsfotografien herauslesen? Es geht nicht um eine eindeutige, in sich geschlossene Bilderzählung, sondern vielmehr um die Möglichkeiten unterschiedlicher Assoziationen und das Potential einer Erzählung, die den Betrachter miteinbezieht. So vermischen sich persönliche Wahrnehmung und Formen der Aneignung mit bereits tradierten, (massenmedial) kommunizierten Bildpraktiken. Gleichzeitig treten formale Bildmittel und Bildgegenstände in einen Dialog, der sich über das einzelne Bild hinaus erstreckt und Teil der inhaltlichen Argumentation wird. Strukturen, wie beispielsweise die parallele Anordnung von Blättern finden, sich in ähnlicher Form als Reihung von Tischen in einem anderen Bild wieder. Grafische Rhythmen und unterschiedliche Bildgrößen verdichten die Erzählung. Sprechen mit und in Bildern bedeutet in Ann-Kathrin Müllers Arbeiten Betrachtungsweisen visuell aufzuzeigen und zu untersuchen, indem sie aufgegriffen, variiert und in einen neuen Sinnzusammenhang gebracht werden.